305 Kilometer 25.000 Höhenmeter Eine kleine Runde, also

100 Kilometer und 100 Meilen, ob im Flachen oder im Gelände, sind irgendwie die klassischen Distanzen im Ultramarathon, der Spartathlon mit seinen rund 250 Kilometern oder der Ultra Trail du Mont Blanc mit 170 km und 10.000 Höhenmetern genießen Legendenstatus. Doch das Schöne – oder das Schlechte, Ansichtssache – an den Ultras ist, dass ihre Skala, so es eine gäbe, nach oben offen ist. Eine der ganz langen und herausforderndsten Kanten nennt sich PTL.

Text: Egon Theiner
Bilder: Florian Grasel, UTMB

Ach, diese Franzosen. Da gibt es den UTMB, den CCC, den OCC, den TDS, und wenn man sich bemüht, dann kann man mit ein wenig esprit die Abkürzungen auch entschlüsseln, bekannt genug wären sie ja. Doch dann gibt es auch noch den PTL, einen weiteren Lauf im Rahmen der UTMB-Woche in Chamonix. Bei diesem werden die Teilnehmer:innen am Montag um 8 Uhr auf die Reise geschickt, sie werden irgendwann zwischen Freitag und Sonntag zurück sein und bis dahin weiter nicht stören. 

Denn in dieser Zeit umrunden sie das Mont Blanc-Massiv, legen 305 Kilometer zurück, erklimmen 25.000 Höhenmeter, bewältigen nochmals so viele im Abstieg – nonstop natürlich, und selbstverständlich in vollkommener Autonomie. Die Strecke ist nicht markiert, der Track auf der Sportuhr wichtigster Begleiter. Die einzige Unterstützung, die vonseiten der Organisatoren kommt, besteht in zwei größeren Verpflegungsstationen bei Kilometer 90 und 180, an denen die Läufer:innen Zugang zu ihren Dropbags (eigene Verpflegung und Wechselkleidung) haben, sowie sechs Berghütten, die rund um die Uhr geöffnet sind.

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Doch umso weniger die Veranstalter auf der Strecke präsent sind, umso mehr waren sie es im Anmeldeprozess. Florian Grasel, der zusammen mit seinem Partner Tom Wagner die Runde auf sich genommen hat, erzählt davon, dass eine regelrechte Bewerbung inklusive auszufüllenden Fragebogen notwendig war, um dem Veranstalter mit Referenzen, wie beispielsweise: „Welche Berge hat man bestiegen“, zu versichern, dass man der Herausforderung gewachsen sei. Wird anderswo so nebenbei gefragt, ob es denn eine aufrechte Versicherung gäbe, so musste hier die Polizze, in der auch die Hubschrauberbergung vorgesehen war, vorgezeigt und hinterlegt werden. „Es ist mehr ein Abenteuer als ein Lauf“, sinniert der Österreicher Grasel Wochen nach dem PTL, „ich erinnere mich auch daran, dass meine Frau eher geschockt war, als ich eine Liste mit all meinen Passwörtern anlegte und sie auf meine Lebensversicherung hinwies – es hatte einen Hauch von Abschied nehmen.“ 

An einer Veranstaltung, in der Klettersteigset, Klettergut, Kletterhelm zur Pflichtausrüstung gehören, kann nicht jeder teilnehmen, und dass die Veranstalter rigide kontrollieren, dient nicht nur ihrer Sicherheit, sondern auch jener aller Beteiligten. Aber ist es nicht dennoch unverantwortlich, dort anzutreten? Grasel zuckt mit den Achseln und meint, dass das Zauberwort immer noch Eigenverantwortung lautet.

An diesem Begriff haben sich der Gründer und Geschäftsführer des IT-Unternehmens Smarter Business Solutions GmbH und sein Partner Tom Wagner, der auf der Uni Graz im Fachbereich Hydrogeologie forscht, beim PTL regelrecht abgearbeitet. Das Duo – Team BOA & Salomon #BetterTogether belegte letztlich Platz zwei – hat keine lange gemeinsame Historie. 2022 gewannen Grasel/Wagner den Eiger E250, zwei Jahre später folgte in Chamonix quasi eine reunion. „Vor dem Lauf in der Schweiz haben wir noch einige gemeinsame lange Trainings gemacht“, sagt Grasel, „vor jenem in Frankreich kein einziges“, und lacht. „Wir kennen uns schon sehr gut, schwimmen auf der gleichen Wellenlänge, sind füreinander gemacht für diese Unternehmungen.“

Der PTL unterscheidet sich von vielen anderen Ultratrail-Rennen durch sein extrem anspruchsvolles, größtenteils wegloses Gelände und das völlige Verbot externer Unterstützung. Die Strecke ist hochalpin und führt über Gletschermoränen und steile Felsabschnitte. Für eine 600 Höhenmeter lange Bergab-Passage benötigten Grasel und Wagner aufgrund der extremen Bedingungen fast drei Stunden im weglosen und unmarkierten Gebiet. 

„Bei einem solchen Abenteuer musst du minimalistisch unterwegs sein, dich aber zu hundert Prozentauf deine Ausrüstung verlassen können. Im größtenteils unwegsamen Gelände muss jeder Schritt sitzen, sonst riskierst du eine Verletzung oder Schlimmeres. Deshalb vertraue ich auf Schuhe mit dem BOA® Fit System, das es mir ermöglicht, die Passform meiner Schuhe je nach Bedarf und Terrain feinjustieren zu können. Das ist besonders wichtig, wenn man sich durch schwieriges Gelände bewegt und lange Distanzen zurücklegt.“

Diese Unternehmung war das Härteste, was Grasel – UTMB-Neunter 2018, mehrfacher Sieger des Grossglockner Ultra-Trails und beim Hochkonigman, Sieger beim Pitz Alpine Glacier Trail, und, und, und – jemals gemacht hat und vielleicht je machen wird. Der PTL bot ganz neue Herausforderungen, vor allem wegen der technischen Schwierigkeiten, auf die sich die beiden in ihrer Heimat – Grasel kommt aus Bad Erlach in Niederösterreich, Wagner aus Graz in der Steiermark -nicht vollends vorbereiten konnten.

Um klarzustellen. Unter normalen Bedingungen, sagen wir: heute eine Hochtour, und nach einer Mütze Schlaf morgen die nächste Hochtour, ist der PTL nicht „gefährlich“. Er ist überschaubar gefährlich, wie es Grasel bezeichnet, aber er wird gefährlicher, weil er ein Nonstop-Rennen ist. Nach zwei oder drei Nächten, in denen insgesamt vielleicht zwei oder drei Stunden geschlafen wurde, lässt die Konzentration und der Fokus nach. „Du wirst fahrig und unkonzentriert, du befindest dich körperlich und mental in einer anderen Welt. Das, was unter normalen Bedingungen vielleicht nur einen Gähner entlockt, wird zu einer ernstzunehmenden Herausforderung“, erklärt der Ultraläufer. „Ein falscher Schritt, ein falscher Griff, und du bist tot.“

Es ist die vierte Nacht, als es dramatisch wird um Grasel/Wagner. Bei Kilometer 250 steuern sie eine Berghütte an, die sie für eine der sechs durchgehend geöffneten Partnerhütten halten. Sie sind am Ende und setzen alles daran, das Schutzhaus noch in der Nacht zu erreichen. Dies schaffen sie auch, doch als sie um 1 Uhr im Stockdunkeln an der Hütte ankommen, ist sie geschlossen: Es war das falsche Ziel! Grasel: „Es gibt Studien, die die Auswirkungen von Schlafentzug untersuchten. Nach 17 Stunden Wachzeit am Stück reagiert der Mensch so, als ob er 0,5 Promille Alkohol im Blut hätte, nach 24 Stunden sogar wie bei 1,0 bis 1,2 Promille. Wir waren zu dem Zeitpunkt 72 Stunden unterwegs …  Durch diese völlige Übermüdung hast du so etwas wie einen Schleier, der sich um dein Hirn legt und der klares Denken unmöglich macht. Wir haben schlicht und einfach die Namen der Hütten verwechselt, und einmal dort, bestand unsere einzige Option darin, im Eingangsbereich auf kaltem Stein zwischen stinkenden Schuhen zusammengekauert etwas auszuruhen. Was zu Rückenproblemen führte. An Aufgeben haben wir beide aber nicht gedacht, nicht eine Sekunde – weil wir an dieser Stelle unser Rennen gar nicht abbrechen konnten, weil wir dennoch weiter mussten und weil wir wussten, dass der Weg zurück weiter wäre als jener ins Ziel.“ Trotz der Rückenschmerzen und weiterer Probleme wie starkem Nasenbluten im vorletzten Abstieg kämpften sich Grasel und Wagner durch die letzten 50 Kilometer. 

Ein paar Kilometer vor der Finish-Line werden die beiden Helden von der Organisation angerufen. Sie mögen doch ein bisschen langsamer machen, weil gerade die zweite und dritte Frau des CCC erwartet werden – und es wahrscheinlich nicht so gut aussieht, wenn zwei alte abgekämpfte Männer neben zwei jungen schnellen Ladies stehen, die dann eventuell die Fernsehübertragung stören. Klar, der CCC ist mit rund 3000 Teilnehmer:innen ein Premium-Produkt der UTMB World Series, der PTL mit 120 teilnehmenden Teams (von denen 57 das Ziel erreicht haben) ein Nebenschauplatz. Doch die Veranstalter haben einen Fehler in ihrer Kalkulation gemacht – sie haben mit einer Pace von 4-5min/km gerechnet, Grasel/Wagner waren eher mit 7-8min/km unterwegs und konnten definitiv nicht schneller. (Ganz kurz zur Einordnung und Erinnerung: Das Duo ist seit über 100 Stunden nonstop unterwegs, hat 300 Kilometer und 25.000 Höhenmeter hinter sich gebracht, und läuft den Kilometer immer noch in sieben bis acht Minuten!)

Mit nur vier bis fünf Stunden Schlaf über 110 Stunden und rund 25.000 verbrauchten Kalorien (umgerechnet etwa 31 Pizzen) waren Grasel und Wagner ständig im Kaloriendefizit. Dennoch meisterten sie das Rennen: Es war ein extremer Test mentaler und körperlicher Grenzen. Doch warum tut man sich ein solches Abenteuer überhaupt an und begibt sich in Extremsituationen? Warum kann es nicht der UTMB oder ein anderer Hundertmeiler sein? 

Weil es vielen, so auch Florian Grasel, darum geht, Grenzen auszuloten und zu erfahren, wie weit Füße tragen können. Dies impliziert die Möglichkeit des Scheiterns, dennoch kann Grasel der Aussage „du musst bereit sein, zu weit zu gehen, um zu erfahren, wie weit du gehen kannst“, einiges abgewinnen. Dass er sich Jubel, Trubel, Heiterkeit der UTMB-Woche in Chamonix ersparte und sich in der Einsamkeit mit einem Freund einem, nämlich seinem, Abenteuer widmen konnte, war ein attraktiver Nebeneffekt.

Dennoch, viereinhalb Tage später und zurück im Austragungsort der ersten Olympischen Winterspiele 1924, war Grasel zwiegespalten in seinen Gefühlen. Da war einerseits diese unendliche Dankbarkeit, die Tour gemacht zu haben, mit dem Bild des Sonnenaufgangs am Col de Malatra bis ans Ende seiner Tage in seinem Kopf. Und da war andererseits die Frage, ob es dafürgestanden ist, sich übernächtigt im hochalpinen Gelände, in denen Kleinigkeiten fatale Folgen hätten haben können, jenen Gefahren auszusetzen, denen er sich stellen musste, und dies im Wissen, dass daheim Frau und Kinder warten.

Wahrscheinlich wird Florian Grasel nicht mehr beim PTL antreten, warum auch. Es gibt so viele andere vergleichbare Läufe, auch wenn jener am Mont Blanc-Massiv wohl der schwerste seiner Art weltweit ist. Der Tor des Geants ist ein unfinished business für Grasel, es gibt die Wettbewerbe der „Swiss Peaks“, um nur zwei Optionen aufzuzeigen. Und wie schon eingangs erwähnt: Der Ultramarathon kennt keine Grenzen. Es gibt Sechs-Tage-Läufe, es gibt 1600-km-Rennen, es gibt die Klassiker in den USA, wobei die Zahlen für Meilen und nicht Kilometer stehen: Tahoe 200 im Juni, Bigfoot 200 im August und Moab 240 im Oktober (die sogenannte „Triple Crown“). Es gibt nur die Qual der Wahl!

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Ach, übrigens. PTL steht unter anderem für Propeller-Turbinen-Luftstrahltriebwerk und ist die Abkürzung für den Flughafen Port Armstrong in Alaska. Das ist beides richtig und beides falsch. PTL steht für La Petite Trotte à Léon (ironisch im Volksmund: Leons kleine Tour). Ach, diese Franzosen! Immer locker und fröhlich bleiben, auch wenn es einmal hart wird, kann man da nur sagen, oder?

Lust auf eine Teilnahme beim PTL bekommen? Hier geht es zu weiteren Informationen:
https://montblanc.utmb.world/races/PTL

Weblinks:

www.boafit.com

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