Wertschätzung, Windmühlen und WM

Berglauf-Ikone Andrea Mayr über gekränkten Stolz, ihren Kampf gegen Doping und eine mögliche WM-Teilnahme in Canfranc 2025.

Andrea Mayr hat es längst nicht mehr nötig. Sieben Weltmeistertitel im Berglauf legen Zeugnis ab, dass sie eine sportliche Ausnahmeerscheinung ist. Sie hat einen Mann und eine Tochter im Kindergartenalter, einen Fulltime-Job als Orthopädin und Unfallchirurgin am Klinikum Salzkammergut in Gmunden und wenn sie bei Sonnenschein auf ihren Balkon tritt fällt ihr Blick auf den Traunsee und den Grünberg, ihr Trainingsrevier. Und trotzdem fehlt ihr etwas. Etwas, dass man sich nicht kaufen und nicht erlaufen kann und um das nicht einmal die leidenschaftliche Sportlerin kämpfen kann: Wertschätzung. Und zwar jene im eigenen Land vom eigenen Verband. „In Österreich zählen wir schon sehr wenig“, sagt sie. Gerade hat sie Ingwer-Sirup eingekocht und sich mit einem Glas Wasser und einer dünnen Daunenjacke auf den Balkon ihrer Wohnung gesetzt. „Nach meinem WM-Titel in Innsbruck-Stubai 2023 hat Helmut Schmuck im Verband gefragt, ob das nicht irgendeine Form der Vergütung für die Andrea bedeuten könnte. Die Antwort war: Nein, das ist nicht vorgesehen. Dabei geht es mir nicht ums Geld. Selbst eine Sachertorte mit einer Glückwunschkarte wäre mehr als nichts“, sagt sie und ihre Stimme wird dabei lauter. 

Weil sie 2024 keine besonders gute Saison gehabt hat, wurden ihr für 2025 die Förderungen gestrichen. „Ich weiß, dass 2024 schlecht war. Aber damit man Familie, Beruf und den Sport mit intensivem Training unter einen Hut bekommt, muss alles in Balance sein“, sagt sie. War es aber nicht. Private Probleme im Umfeld haben das Gleichgewicht gestört, bis der Körper irgendwann gesagt hat: Bis hierher und nicht weiter. Ungewöhnlich oft ist Mayr in dieser Zeit krank, erst seit ungefähr Februar 2025 fühlt sich das Training, das Laufen wieder so an, wie es sein sollte. „Vom Verband hat aber nie wer nachgefragt, warum meine Leistungen nicht mehr so gut waren“, sagt sie. „Es ist vielleicht eh nur gekränkter Stolz, wenn man ehrlich ist. Es dürfte mir eigentlich gar nichts mehr ausmachen. Und ich hab mich selbst darüber geärgert, weil es mir offensichtlich trotzdem was ausmacht.“ Weil eben: fehlende Wertschätzung.

Andererseits findet sie die mangelnde öffentliche Aufmerksamkeit für die Nische Berglauf gar nicht so schlecht. „Weil ich glaube, dass dadurch Doping eine geringere Rolle spielt. Wenn es nicht so viel Aufmerksamkeit gibt, gibt es auch weniger Geld. Gibt es weniger Geld, ist auch Doping nicht so das Thema.“ Eine durchaus provokante Aussage. Die sie treffen kann, weil sie als Ärztin einen Job hat, der ihr die finanzielle Freiheit gibt. „Klar gibt es – vor allem in Afrika – Läuferinnen und Läufer, die mit dem Sport eine ganze Großfamilie ernähren. Im Vergleich dazu, hab ich natürlich leicht reden“, gibt sie offen zu und legt gleich noch einmal in ähnlicher Weise nach. „Ich bin mittlerweile froh, dass unser Sport nicht olympisch ist. Gut, ich habe leicht reden, weil ich zweimal Olympische Spiele erleben durfte. Aber weil man so ein bisschen links und rechts von den Olympischen Spielen schaut und merkt wieviel Korruption dahintersteckt und so weiter dann naja – ist es wirklich soo erstrebenswert bei diesem Scheiß dabei zu sein? Wo es nur um Macht und Geld geht, und überhaupt nicht um die Sportler. Der Marathon-Start in Rio war um 11.30 Uhr!“ Überhaupt war Rio für sie besonders schlimm. „Das IOC geht nach den Spielen immer mit den Geldkoffern nach Hause. Und was bleibt in dem Land übrig? Ob das Land dabei verarmt oder wie in dem Fall, ob die den Lehrern dann ein halbes Jahr lang kein Gehalt zahlen konnten, ist völlig wurscht. Völlig egal. Ob Sportstätten errichtet werden, die danach dem Verfall preisgegeben werden, weil man sie nicht einmal erhalten kann – alles wurscht.“

Eine gute Stunde ist vergangen, seit sich Mayr auf den Balkon gesetzt und zu erzählen begonnen hat. Offen und entwaffnend ehrlich sprudeln die Worte aus ihr heraus. Sie spricht über die Freude am Laufen und den Segen, nach so einer langen Laufbahn keine Schmerzen zu haben, kein Zwicken zu spüren. Außer vielleicht im kleinen Zeh. „Aber da ist mir eine Schwester bei der Visite mit dem Verbandswagen drübergefahren.“ 

Innen drinnen in der Sportlerin, da hat es aber Schmerzen gegeben, Rück- und andere Schläge musste sie – im übertragenen Sinn einstecken. Für ihren Kampf gegen das Doping in der Leichtathletik, den sie selbst als „Kampf gegen Windmühlen“ bezeichnet. Als sie Anfang der 2000er Jahre von einem Funktionär per Telefonat zurückgepfiffen wurde, jemanden zum Auspacken zu bringen, damit es keinen Doping-Skandal gibt. „Das war furchtbar. Du denkst dir, du machst das Richtige und wirst trotzdem geschlagen dafür. Im Nachhinein, als das ganze überstanden war, da sind dann die Schulterklopfer gekommen und haben gesagt, boah, das hast du gut gemacht. Aber nicht zu der Zeit als es schlimm war und mich alle geschlagen haben dafür. Da ist keiner gekommen und hat gesagt: Du hast recht Andrea, das können wir nicht machen.“ 

Macht und Geld sind im Spitzensport und generell die beiden Werte, auf die sich alles reduzieren lässt. „Genau“, sagt Mayr. „Das ist es. Schau dir Putin an, Trump, Elon Musk. Es geht nur um diesen Scheiß. Trotzdem egal ob Sport oder Politik: Macht es die Leute glücklicher? Ist Donald Trump jetzt der glücklichste Mensch der Welt? Oder Wladimir Putin? Weil er Geld und Macht hat. Wirken die glücklich? Ich glaube nicht.“

Andrea Mayr wirkt da wesentlich glücklicher. „Außer, wenn ich vor der Arbeit eine Trainingseinheit mache und um 5 Uhr früh der Wecker läutet. Das ist echt hart.“ Trotzdem macht sie weiter. Läuft vor der Arbeit auf den Grünberg. „Weil man sich auch auf 600 Höhenmetern ordentlich verausgaben kann.“ Sie macht den Sport eben, weil er ihr Spaß macht – Training und Wettkampf gleichermaßen. Obwohl: Ist sie nicht eigentlich zurückgetreten? „Bin ich das?“, fragt sie zurück. „Aufhören ist jedenfalls nicht so leicht. Ich mache das ja schon so lange. Es hat keinen Urlaub gegeben, der nicht ein Trainingslager oder eine Reise zu einem Wettkampf war. Es ist ein Ausgleich, für Kopf, Körper, für alles. Wenn das auf einmal weg ist, ist das gar nicht leicht. Und das betrifft nicht nur das Training, sondern auch das Hinfiebern auf einen Wettkampf, das Vorbereiten, das vielleicht manchmal auch zu viel reinsteigern, sodass man diese Anspannung gerade eigentlich gar nicht will, bis dann beim Startschuss doch die Erlösung kommt.“ 

2025 kommt auch wieder etwas Großes – die World Mountain and Trail Running Championships (WMTRC) in Canfranc in den spanischen Pyrenäen an der Grenze zu Frankreich. Mayr ist da Titelverteidigerin im Berglauf. Auch wenn sie keine Unterstützung vom Verband bekommt und 2024 schlecht war – einen Platz würde sie in Canfranc wohl niemandem wegnehmen. „Außerdem sind sich 2024 ja doch Siege im Weltcup ausgegangen.“ Wird sie also auch mit 45 noch einmal für eine WM trainieren, alles in die Waagschale werden? Laut Bericht einer österreichischen Tageszeitung Anfang März ist Canfranc für sie „(fast) keine Option“ mehr. „Den Artikel hat mir ein Freund auf Whatsapp geschickt. Mit mir hat da gar niemand geredet“, sagt sie und lacht. „Ich habe ja selbst noch gar nicht mit mir darüber geredet.“ Also ist die WM jetzt ein Thema oder nicht. „Ich schließe es nicht aus. Aber ich schließe es auch nicht ein“, sagt sie und lacht. „Ich weiß es nicht. Derzeit bin ich froh, dass ich seit fünf Wochen wieder wieder auf einem Level bin, wo ich merke, dass es Spaß macht, dass ich Fortschritte mache, dass ich nicht mehr krank bin und sich laufen und Training wieder so anfühlt, wie es sich anfühlen soll. Ich bin noch nicht auf einem Level auf dem ich absolut konkurrenzfähig bin. Aber es macht Spaß und freut mich wieder. Davon war ich letzten Herbst schon weit entfernt. Schauen wir einmal, wie es sich weiterentwickelt.“

In der Zwischenzeit denkt sie gerne an den Erfolg in Innsbruck-Stubai zurück. „Das war schon richtig geil.“ Weltmeisterin zu Hause – da war sie im Ziel auf der Elferhütte überwältigt von den Emotionen. „Dabei hatte ich vor der langen, flachen Schotterpassage wahnsinnig Angst“, erinnert sie sich. „Lustigerweise habe ich die aber noch durchgedrückt.“ Im Steilen, dem Spezialgebiet von Andrea Mayr, da ist dann plötzlich die Kenianerin Philaries Jeruto Kisang an ihr vorbeigezogen. „Und ich hab mir gedacht: Wo kommt die denn jetzt auf einmal her? Wäre mir das ein paar Jahre früher passiert, wäre ich in Schockstarre verfallen, aber in dem Fall wäre auch ein zweiter Platz für mich noch unglaublich toll gewesen und daher war ich nicht komplett paralysiert, sondern motiviert und konnte noch kämpfen.“ Das tat sie in ihrer typischen Manier und überholt ihre Gegnerin wieder. „Wie das gegangen ist, kann ich mir bis heute nicht erklären.“ Mitgeholfen hat sicher die Atmosphäre auf dem steilen Schlussstück. „Da haben dann ein paar Leute reingeschrien: Andrea, die schaut viel schlechter aus als du. Da hab ich mir gedacht: Okay, lange ist es eh nicht mehr.“

Dass die WM keinen Boom ausgelöst hat, dass die Wertschätzung auch da nicht gekommen ist – all das kann sie sich nicht erklären, aber auch nicht ganz abschütteln. Andererseits genießt sie die Freiheit, tun und lassen zu können, was sie will. Sie hat keine Sponsorenverträge – muss dafür aber auch keine Social Media Postings absetzen. „Happy running girl. Heute schon wieder auf dem Grünberg – gibt nichts Schöneres. Das bin überhaupt nicht ich. Da käme ich mir nur blöd vor.“ Sie ist froh, dass sie nicht vom Sport leben kann und nicht vom Sport leben muss. Wegen des Drucks, gewinnen zu müssen. „Aber auch, weil sich dein ganzes Gehirn den ganzen Tag nur mehr um den Sport dreht. Das ist auch nicht gut, glaube ich. Wenn sich alles nur mehr darum dreht. Es ist sicher entlastend, wenn einmal an was anderes denken darf. Das ist eine geistige Erholung.“

Und so wird so wohl weiterhin trainieren, laufen, Wettkämpfe bestreiten. Einfach weil es ihr Ausgleich ist und weil es ihr Leben mitbestimmt. Auch wenn die Wertschätzung anderswo größer ist, als in der Heimat, man sie etwa in Italien feiert, wenn sie bei einem Berglauf antritt. Der Schmerz am kleinen Zeh wird vergehen, wie es der Schmerz über die fehlende Werschätzung tun wird. Der Ärger über die gestrichene Förderung oder den Kampf gegen Windmühlen wird verrauchen. „Wenn ich laufe, bin ich einfach runder, ausgeglichener“, sagt Mayr. Der richtige Schmerz, der die Augen glasig werden lässt, den fühlt sie, wenn aber, wenn sie über den plötzlichen Tod einer Freundin spricht. Wenn sie sich Vorwürfe macht, nicht gemerkt zu haben, wie schlecht es ihr gegangen ist. Auch darum ist Andrea Mayr ein Mensch, der im Hier und Jetzt lebt. Dinge lange voraus zu planen, das ist nicht ihr Ding. „Ich hab nach der Schule nicht gewusst, dass ich Medizin studieren will und nach dem Studium nicht gewusst, dass ich Chirurgin werden will. Ich war immer ehrgeizig, aber ich habe mir nie vorstellen können einmal Weltmeisterin zu werden. Es hat sich einfach immer ganz gut ergeben.“

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