ULTRA GOBI 400, oder: Laufen an der Schwelle zur Ewigkeit

Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, als sich die ersten Stirnlampenlichter in der Dunkelheit bewegen. Ein leiser Wind trägt den Geruch von Sand und kalter Erde über die Ebene. In Dunhuang, einer kleinen Stadt am Rand der Provinz Gansu, beginnt ein Abenteuer, das längst mehr ist als ein Rennen. Vierhundert Kilometer liegen vor den Männern und Frauen, die jetzt hinauslaufen in die Unendlichkeit der Gobi. Vierhundert Kilometer durch eine Landschaft, die keine Fehler verzeiht, in der Hitze, Kälte, Schlafmangel und Einsamkeit nicht Nebengeräusche sind, sondern das eigentliche Wesen des Laufs.

Text: Egon Theiner
Bilder: Christoph Harreither, Brigid Wefelnberg, ULTRA GOBI Series

Dunhuang selbst wirkt wie ein Anachronismus inmitten der Leere. Eine Oase, gespeist vom Danghe-Fluss, seit Jahrhunderten ein Rastpunkt auf der Seidenstraße. Hier teilten sich die Routen: nach Norden entlang des Tian-Shan-Gebirges oder nach Süden durch die Taklamakan, wo Sandstürme ganze Karawanen verschlangen. Händler brachten Seide, Jade und Gewürze, Mönche trugen ihre Schriften, und die Mogao-Grotten mit ihren tausenden Buddha-Fresken bezeugen noch heute den kulturellen Austausch dieser Epoche. Gleich hinter der Stadt ragen die singenden Sanddünen auf, die beim Herabrutschen ein geheimnisvolles Dröhnen erzeugen, und in einer Senke liegt der Crescent Lake, eine schmale Oase in Form einer Mondsichel. Für die Läufer ist dieser Ort mehr als Startlinie. Er ist ein Symbol: Hier beginnt die Grenze zwischen Zivilisation und der Welt, die jenseits liegt.


Dunhuang – Tor zur Wüste

  • Lage: Nordwesten Chinas, Provinz Gansu
  • Koordinaten: 40° N, 94° O
  • Meereshöhe: ca. 1.200 m
  • Seidenstraße: Knotenpunkt zwischen Nord- und Südroute
  • Kultur: Mogao-Grotten mit über 700 Höhlen, UNESCO-Weltkulturerbe
  • Natur: Singende Sanddünen, Crescent Lake

Die ersten Kilometer wirken fast freundlich. Noch ist es kühl, der Himmel färbt sich rosa. Doch schon bald kippt die Szenerie. Mit den ersten Strahlen der Sonne brennt die Hitze unerbittlich herab. Schatten gibt es nicht, jeder Schritt wirft Staub auf, die Luft flimmert, als hätte jemand ein unsichtbares Feuer über die Ebene gelegt. Wer hier läuft, spürt schon am Vormittag die Kälte der Nacht im Rücken und die Glut des Tages im Gesicht.

Die Gobi ist keine homogene Wüste, sondern ein Flickenteppich der Extreme: Geröllfelder, die an Hochgebirge erinnern, Canyons, in deren Schatten man sich verlieren kann, Dünen so groß wie Berge und Salzseen, deren Oberfläche bricht wie Glas. 1,3 Millionen Quadratkilometer weit, größer als ganz Peru. Dazu kommt die Höhe: im Schnitt 2.000 Meter, mit Passagen bis über 3.000.

„Man arbeitet innerhalb von 24 Stunden die Temperaturskala von oben bis unten ab“, erinnert sich Christoph Harreither, ein österreichischer Ultraläufer, der 2017 am Start stand (hier geht es zu seiner Lauf-Statistik). Für ihn war es der erste 400-Kilometer-Nonstop-Lauf seiner Karriere, und einer seiner härtesten überhaupt. „Puh, dieser Lauf oder besser gesagt dieses Abenteuer war für mich wirklich tough. Mein erster 400-Kilometer-Nonstop-Lauf – und rückblickend eine meiner härtesten Bewährungsproben.“

Er spricht von Passagen durch felsdurchsetzte Canyons, von Dünenfeldern, die jeden Schritt verdoppeln, von Flüssen, die es zu durchqueren gilt. Besonders der letzte Abschnitt brannte sich in sein Gedächtnis: „Die Überquerung mehrerer Salzseen. Die Kristalle durchbohrten meine Sohlen und Socken. Ein super schwieriges Terrain.“

Doch die Härte endet nicht beim Untergrund. 2017 war die Navigation eine eigene Prüfung. „Es war kein einfaches GPS-Track-Folgen. Teilweise musste man nur zu einem bestimmten Punkt steuern, ohne Wegvorgabe – mitten durch riesige Dünen. Zum Glück traf ich einen Franzosen, der das beherrschte. Allein hätte ich das kaum geschafft.“

Dann war da der Schlaf. 140 Stunden Zeitlimit klingen großzügig. Doch in der Praxis bedeutet es: laufen, essen, laufen, trinken, laufen. Harreither schlief in 130 Stunden gerade einmal sechs. „Ich hatte brutale Halluzinationen. Da nur 50 Starter:innen zugelassen sind, war man oft stundenlang alleine unterwegs. Das ist eine zusätzliche mentale Belastung.“ Stimmen im Wind, Schatten, die nicht da waren – die Wüste testet nicht nur Muskeln, sondern auch den Verstand.

Und immer lastete der Rucksack schwer auf den Schultern: acht bis zehn Kilogramm Pflichtausrüstung – Schlafsack, Kleidung für Sommer und Winter, Lampen, Verpflegung. „Real food“ gab es nicht, nur das, was man selbst in seinen Dropboxes hinterlegt hatte.

„Also mehr ein Abenteuer als ein Lauf. Die Natur und das Erlebnis sind jedoch einzigartig. Werde ich nie vergessen.“


Das Rennen in Zahlen

  • Distanz: 400 Kilometer
  • Zeitlimit: 140 Stunden (knapp 6 Tage)
  • Starter:innen: max. 50 pro Jahr
  • Höhe: durchschnittlich 2.000 m ü. d. M., höchster Punkt über 3.000 m
  • Temperaturen: +40 °C am Tag, bis –10 °C in der Nacht
  • Rucksackgewicht: 8–10 kg Pflichtausrüstung
  • Versorgung: Wasser alle 10–15 km, Dropboxes an wenigen Stationen
  • Erster Austragung: 2015
  • Austragung 2025: von 2. bis 9. Oktober
  • Website: www.ultragobiseries.com

In den Nächten wird das Rennen surreal. Die Sterne hängen so dicht, als könne man sie mit der Hand pflücken. Kein Laut, nur das Knirschen der Schritte im Sand. Doch irgendwann verschwimmen die Sinne. Manche Läufer:innen sehen Karawanen, wo keine sind. Andere hören Stimmen, die nicht existieren.

Brigid Wefelnberg, eine der erfahrensten Ultra- und Wüstenläuferinnen Europas, weiß, was das bedeutet. 2018 beendete sie den Lauf als Vierte der Frauenwertung. 2024 wurde sie unterkühlt aus dem Rennen genommen, absolvierte aber später, außer Konkurrenz, doch noch die gesamte Strecke. Und 2025 kehrt sie zurück – zum dritten Mal.

„Es ist ein grandios organisierter Event“, sagt sie. „Die Logistik, die Freiwilligen, der Kurs, die Abgeschiedenheit – das alles macht Ultra Gobi zu einem echten Erlebnis.“ Normalerweise, erzählt sie, sei sie keine Wiederholungstäterin, es gebe doch so viele schöne Veranstaltungen. „Doch mit der Wüste Gobi habe ich eine besondere Verbindung.“

Geplant war ihre Rückkehr nicht. Eigentlich wollte sie im Himalaya starten, doch politische Spannungen ließen den Lauf platzen. Stattdessen wanderte sie allein 285 Kilometer von Kloster zu Kloster – fünf Wochen unterwegs, während sie parallel im „Remote Work“-Modus für ihr indisches Unternehmen Nagarro arbeitete. „Trotzdem zog mich der abgesagte Lauf in ein Loch. In dieser Krise kamen die schönen Bilder und Erinnerungen an die Gobi hoch. Ich trat mit den Organisatoren in Kontakt – 24 Stunden später hatte ich einen Startplatz.“

Wefelnberg beschreibt die Wüste als etwas Einmaliges: „Die Wüste ist das Gegenteil von alledem, was die Welt am meisten ausmacht: dem Meer, der Fülle beispielsweise. In der Wüste wirst du in eine andere Zeit zurückversetzt, in die Steinzeit quasi. Du erlebst Dinge, die du im Alltag nie sehen wirst: Tag und Nacht in einem fort unterwegs zu sein, alle Annehmlichkeiten der gewohnten Welt hinter dir zu lassen – auf dem Boden zu schlafen, nach einer Woche zu stinken, weil das Wasser nicht für das Säubern des Körpers, sondern gegen den Durst gebraucht wird. Es geht darum, andere Menschen und Kulturen kennenzulernen, Ängste wie Schlangen, Skorpione oder Kamele zu überwinden. Und es endet damit, keinen Empfang für das Mobiltelefon zu haben, abgeschieden und allein, ganz bei dir zu sein.“

Mitten in der Härte und den Entbehrungen sind es nicht nur Schmerzen, die die Läufer:innen begleiten. Manche spüren, wie die Wüste selbst sie trägt. Bryon Powell, Journalist, Ultraläufer und Chronist der Szene, hat das bei seinem Start im Ultra Gobi eindrücklich erlebt.

„Die Gobi selbst hat mir geholfen, in guter, positiver Stimmung weiterzugehen. Gott, ich liebe die Wüste. Sie ist nicht für jeden, aber für mich ist sie es. Ich liebe die Weite, die Pastelltöne zweimal am Tag, die Kargheit, die verborgene Schönheit und das Leben, die Aussicht auf Berge, die Tage entfernt scheinen, das Wunder einer lebensspendenden Quelle, die Wärme eines Herbstnachmittags und den stillen, klaren, das Universum enthüllenden Nachthimmel.“

Für Powell ist die Gobi kein Feind, sondern eine Verbündete.

„Mitten in den körperlichen Herausforderungen eines Events wie Ultra Gobi wäre es einfach gewesen, die Wüste als meinen Gegner zu sehen. Stattdessen habe ich sie als freudiges Buffet betrachtet, das es unterwegs zu essen und zu genießen gilt.“

2024 war just er es, der ein neues Kapitel dieses Events geschrieben hat. Bryon Powell erreichte das Ziel nach 68 Stunden, 59 Minuten und 40 Sekunden – schneller als je ein Mensch zuvor. Ein Rekord, aufgestellt in einer Landschaft, die so unberechenbar ist, dass Zeiten oft keine Bedeutung haben. Hier geht es zu seinem vollständigen Race-Report.

Die letzten Meter

Das Ziel liegt nicht in einem Stadion, sondern vor den Toren Dunhuangs. Wer die letzten Kilometer erreicht, sieht zuerst die Silhouetten der Sanddünen, dann die Lichter der Stadt. Für viele verschwimmen Tränen mit Schweiß, wenn sie das Band der Ziellinie sehen. Manche Läufer:innen fallen auf die Knie, andere liegen minutenlang im Staub, bevor sie sich wieder erheben.

Christoph Harreither beschreibt diesen Moment als etwas Unwirkliches: „Man läuft stundenlang allein durch diese endlose Wüste, und plötzlich stehen da Menschen, klatschen, reichen dir Wasser. Es fühlt sich an, als wärst du aus einer anderen Welt zurückgekehrt.“

Für Brigid Wefelnberg ist das Ziel ein Ort tiefer Dankbarkeit. „Du weißt in diesem Moment, dass all die Schmerzen, die Kälte, die Hitze, die Müdigkeit dich nicht gebrochen haben. Du bist noch da – und du hast die Gobi überlebt.“

Vielleicht ist das die Essenz des Ultra Gobi: Er ist kein Wettkampf um Sekunden, sondern eine Reise an die Grenzen des Menschlichen. Er ist die moderne Entsprechung jener Karawanen, die einst in Dunhuang aufbrachen. Nur dass heute keine Seide und kein Jade transportiert werden, sondern Wille, Leidensfähigkeit, Glaube an sich selbst.

Die Gobi nimmt viel – Schlaf, Kraft, Sicherheit. Doch sie schenkt den Menschen auch etwas: das Gefühl, an der Schwelle zur Ewigkeit gelaufen zu sein.

Neueste Nachrichten

Verwandte Artikel