Ernährung bei Ultras: Essen mit dem Rechenschieber

Genuss ist zweitrangig. Auf einem Ultra bestimmt die Stoppuhr, wann gegessen wird. Was, wann und wieviel man im Rennen zu sich nehmen sollte.

Text: Klaus Molidor
Bild: Jose Miguel Munoz

Es ist gerade in unserer Zeit ein Luxus, wenn es nur darum geht, die elementarsten Bedürfnisse zu stillen. Wenn man ausbrechen kann aus der digitalen Beschleunigung von Arbeit und Alltag, weg von Künstlicher Intelligenz und Dauerkrise und nur darauf schauen muss, dass der Körper, in dem unser Geist und unsere Seele zu Hause sind, ausreichend Energie hat. Keine Angst, das wird keine philosophische Abhandlung über den Sinn des Lebens, sondern eine Geschichte über Essen und Trinken, zwei der elementarsten Bedürfnisse der Spezies Mensch während einer langen und intensiven sportlichen Betätigung – kurz: Ultralauf. Und gerade bei Wettkämpfen die sieben, acht, neun oder auch einmal über 20 Stunden dauern, wird es arachaisch: Essen und Trinken sichern die Energiezufuhr, das Vorankommen in den Bergen und damit in letzter Konsequenz das Überleben.

Während das Thema auf kürzeren Strecken vernachlässigbar ist, kommt der Ernährung auf Ultradistanzen essenzielle Bedeutung zu. Darin sind sich Theorie und Praxis einig. „Ernährung ist für Ultras extrem wichtig, da sie den notwendigen Treibstoff für viele Stunden intensiver Belastung liefert“, sagt Caroline Rauscher, Pharmazeutin und Ernährungsexpertin aus Bayern. Unterfüttert wird diese Aussage vom erfolgreichen österreichischen Ultraläufer Florian Grasel, in der Szene auch als „Trailbeard“ bekannt. „Probleme mit der Ernährung sind bei Ultras der häufigste Grund, warum Läufer aufgeben müssen“, sagt der 41-Jährige aus Bad Erlach in Niederösterreich, der den Großglockner Ultra Trail ebenso gewonnen hat, wie den Eiger 250 und Neunter beim Ultra Trail du Mont Blanc war. 

Vor dem Rennen

So weit, so einleuchtend. Denn, dass kein Motor ohne Treibstoff läuft, respektive der Körper ohne ausreichend Energiezufuhr keine Leistung bringen kann, ist auch dem unbedarften Laien klar, der sich nicht mit Grundumsatz, Gels und Glykogenspeicher auseinandersetzt. Wie aber ernährt man sich nun so, dass immer genug Energie vorhanden ist? Auf alle Fälle früh genug. „Wettkampfernährung für Ultras beginnt bereits 48 Stunden vor dem Event, das sollte man immer im Hinterkopf behalten“, sagt Caroline Rauscher, die viel Erfahrung mit Sportlern hat. Sie ist nicht nur Ernährungscoach des deutschen Fußball-Zweitligisten Jahn Regensburg, sondern betreut auch Triathleten, die auf der Langdistanz ja ähnlichen Belastungen ausgesetzt sind, wie Ultraläufer. „In dieser Zeit ist es wichtig, den Kohlenhydratspeicher zu beladen. Dieser Speicher liefert den am schnellsten verfügbaren Treibstoff für intensive Belastungen und versorgt den Körper zusätzlich mit Wasser und Kalium.“ Zwei Tage vor dem Wettkampf sind also die klassischen Nudeln, aber auch Reis oder Kartoffeln angesagt. Dazu ist ausreichendes Trinken notwendig, damit die Kohlenhydrate auch eingelagert werden können.

„Startet das Rennen am Abend, esse ich rund vier Stunden zuvor noch eine Pizza“, berichtet Florian Grasel aus seinem Erfahrungsschatz. „Geht es in der Früh los, esse ich drei, vier Stunden vor dem Start noch ein Müsli.“ Kurz vor dem Rennen gibt es dann vielleicht noch ein Gel, oder einen Schluck Sportgetränk mit Kohlenhydraten. „Viel ist da nicht mehr notwendig, weil die Speicher zu diesem Zeitpunkt ohnehin ganz voll sind.“ 

Unterwegs

Dann der Startschuss. 80, 90, vielleicht 100 Kilometer oder mehr liegen jetzt vor den Läufern. Dazu meist mehrere Tausend Höhenmeter. Wer sich da nicht mit einer Ernährungsstrategie auf den Weg macht, hat – wenn schon nicht verloren – so aber doch einen klaren Nachteil gegenüber anderen, die sich im Vorfeld darüber Gedanken gemacht haben. Und das Ganze ist bei weitem keine Raketenwissenschaft. „Ich habe da im Wettkampf eine recht einfache Methode“, verrät Florian Grasel. „Ich weiß, dass ich zwischen 70 und 100 Gramm Kohlenhydrate pro Stunde brauche und auch vertrage. Also rechne ich mir aus, wie lange die Abschnitte zwischen den Verpflegungsstationen sind, mit Kilometern und Höhenmetern. Dadurch komme ich auf die Zeit, die ich für diesen Abschnitt brauche. Wenn das, sagen wir, drei Stunden sind, multipliziere ich die 70 mit drei und weiß, dass ich 210 Gramm Kohlenhydrate für diesen Abschnitt mitnehmen muss.“ Konkret sind das dann in etwa drei Gels und ein Riegel. „Dazu habe ich in einer 500ml Flask Maltodextrin-Konzentrat mit Mineralstoffen und in der anderen Flask Wasser. Das ist dann die Menge an Kohlenhydraten, die ich zwischen den Labestationen zu mir nehme.“

Das erfordert natürlich ausreichend Vorbereitung mit dem Streckenprofil, den Distanzen und den Positionen der Verpflegungsstationen auf der Strecke, zahlt sich aber aus. „Früher hab ich das alles Daumen mal Pi gemacht und meistens zu viel mit im Gepäck gehabt. Das ist aber alles Gewicht und gestresst hat es mich auch“, erinnert sich Grasel.

Expertin Caroline Rauscher bestätigt die Strategie des Niederösterreichers. „Optimal ist eine flüssige und auf den Körper angepasste Versorgung aus Kohlenhydraten, Wasser und Elektrolyten um den Körper über die gesamte Dauer hinweg adäquat mit Energie zu versorgen und eine ausreichende Hydrierung sicherzustellen.“ Rauscher empfiehlt in der Vorbereitung auf ein Rennen sich immer auch mit den Temperaturen auseinanderzusetzen. „Gerade wenn es heiß ist, ist es wichtig kalte Flüssigkeit zu trinken, um den Körper quasi von innen zu kühlen und dem Anstieg der Körperkerntemperatur entgegen zu wirken.“ Das gilt auch umgekehrt. Also bei niedrigen Temperaturen sind warme Getränke angesagt.

Spätestens an dieser Stelle trennen sich jetzt Essen und Genuss endgültig voneinander. Im Alltag kann eine Mahlzeit ein sinnliches Erlebnis sein. Gusto , Hunger und auch ein ausreichendes Zeitfenster für ein stressfreies Essen bestimmen den Zeitpunkt, wann man dem Körper etwas Gutes tut. Beim Ultra fällt diese Komponente komplett weg. „Ich stelle mir immer die Uhr auf 20, 30 Minuten, damit ich weiß wann ‚Essenszeit‘ ist“, sagt Grasel und lacht. „Denn wenn man einmal zu viel versäumt hat, kann man das nicht wieder aufholen.“ Der Sinn obsiegt in diesem Fall über die Sinnlichkeit. „Ich habe auch kein Hungergefühl. Das wird auch weniger, je länger man unterwegs ist. Und wenn man den Hunger doch spürt, ist es meistens schon zu spät.“ 

Also ist es ratsam sich an einen Plan zu halten. Aber auch nicht sklavisch, sondern mit Anpassungen. „Wenn es auf einer Forststraße bergab geht und man richtig runterballern kann, werde ich just auf dem Abschnitt nichts zu mir nehmen“, sagt Grasel. „Auch wenn es steil bergauf geht und der Puls sehr hoch ist nicht.“ Lieber also vor einer Steigung die Nahrung aufnehmen und zur Sicherheit schon kurz davor ein wenig vom Gas gehen, damit sich der Puls beruhigt.

An den Verpflegungsstationen

Ist dann die Verpflegungsstation erreicht, gibt es zwei Möglichkeiten. „Wenn es eine mit Support ist, dann bekomme ich dort meine eigenen Riegel und Gels“, sagt Grasel. Ist es eine „normale“ Station hat er keinen Einfluss auf die Verpflegung. „Daher schaue ich mir immer im Vorfeld an, welche Produkte von welchen Herstellern es dort gibt, und kauf mir das vorher um es im Training zu probieren.“ Auch diese Strategie unterstützt Ernährungsexpertin Caroline Rauscher voll und ganz. Das Rennen sei kein Zeitpunkt für Experimente.

Neben den erwähnten Produkten gibt es bei Labestationen aber oft eine sehr große Vielfalt an fester und auch warmer Nahrung. Das reicht von Suppe, Nudeln, Tomaten und Obst bis hin zu Wurst. „Eine salzige Suppe und Nudeln sind super“, sagt Florian Grasel. Auf Würstel verzichtet er gänzlich. „Von fetten und eiweißreichen Produkten ist auf jeden Fall abzuraten“, warnt die Expertin Rauscher. Die Kombination aus flüssiger und fester Nahrung wie Salzkartoffeln oder Salzbrezeln gefällt ihr aber sehr gut. „Weil es für die Athleten abwechslungsreicher ist und in den meisten Fällen tip top funktioniert.“ Auf Labestationen mit eigener Ernährung schwört Florian Grasel übrigens auf Cous-Cous. „Mit Olivenöl, Tomaten und angebratenen Zucchini schmeckt das sehr gut, ist leicht verträglich und bringt viele Kohlenhydrate.“ Fünf, sechs Löffel davon, dazu Cola und ein Schluck flüssige Kohlenhydrate und weiter geht’s. 

Essen lernen

Das klingt nun tatsächlich alles nicht extra kompliziert und auch für den Hobbysportler umsetzbar. Aber Achtung: Von heute auf morgen geht das nicht. Wiederholung ist auch hier die Mutter des Lernens und auch der Magen beziehungsweise der gesamte Verdauungstrakt wollen trainiert werden. „Bei einem langen Ultra komm ich schon so auf 18 Gels“, rechnet Grasel vor. Das steckt man nicht so leicht weg. „Daher sollte man ich im Training ganz bewusst und gut versorgen, damit sich das Verdauungssystem anpassen kann“, empfiehlt Ernährungscoach Caroline Rauscher. 

Aus der Praxis schiebt Top-Athlet Grasel noch einen besonderen Tipp nach. Denn während sich schon viele auf langen Einheiten gut versorgen, wird bei kurzen Trainings darauf verzichtet. „Und bis zu einer Stunde braucht man ja eigentlich wirklich nichts. Viele wollen dann mit dem Laufen auch noch abnehmen. Ich rate aber dazu, auch bei kurzen, intensiven Einheiten Nahrung aufzunehmen. Es kann ja auch im Rennen passieren, dass man 170 Puls hat und was nehmen muss. Außerdem muss man es gewohnt werden zu ‚essen‘, auch wenn man nicht das Gefühl hat es zu brauchen.“ 

Der Kopf spielt da eine große Rolle. Logisch – wie sonst schafft man es 18, meist picksüße Gels runterzuschlucken. „Ich red mir dann immer ein, dass ich mich auf den nächsten Riegel, das nächste Gel freue, dass es gut schmeckt“, sagt Grasel. „Ich stelle mir auch kleine mentale Sachen vor. Zum Beispiel, dass das Gel ein Kohleschaufler ist, der einen Ofen befeuert und mir das jetzt wieder eine Menge Energie geben wird. Oder wenn es wo zwickt stelle ich mir vor, dass das Gel durch die Blutbahn genau an diese Stelle rinnt und punktgenau dort hilft.“ So hat er Probleme mit dem Magen auch meistens sehr gut vermieden. „Natürlich reckt‘s einen schon einmal, aber dann trink ich schnell was nach, schau, dass der Puls ein bissl runterkommt und mit der mentalen Brücke geht es dann meistens wieder.“ Für Übelkeit und Verdauungsprobleme besonders auf langen Laufdistanzen gibt es aber tatsächlich eine wissenschaftliche Grundlage. „Bei intensiven Belastungen reduziert sich der Blutfluss zum Darm um bis zu 70 Prozent“, erklärt Caroline Rauscher. „Durch diese Minderdurchblutung verschlechtert sich die Nährstoffaufnahme. Die Stoßbewegungen beim Laufen führen zusätzlich sehr häufig zu Mikroverletzungen, wodurch sich die Durchlässigkeit des Darms erhöht und es eben zu Problemen kommt. Die Art und Dauer der Belastung alleine erhöhen also schon das Risiko für Magen-Darmprobleme. Umso wichtiger ist also das Austesten im Training, was man am besten verträgt und ein Gewöhnen des Verdauungsystems an die spezielle Ernährung beim Ultra. Damit man am Ende nicht ohne Treibstoff auf der Strecke liegen bleibt. Nicht umsonst kann auch Caroline Rauscher die Faustregel von Florian Grasel für einen erfolgreichen Ultralauf unterschreiben, die da lautet: „50 Prozent laufen, 30 Prozent Ernährung, 20 Prozent Kopf.“

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